Einen Ironman für den verstorbenen Mann

Im Normalfall freut sich ein Triathlet, das Ziel zu erreichen. Dafür trainiert man ja schließlich. Andrea Sauerbrei hat an jenem Tag im Juli 2019 vor allem Angst davor, das Ziel beim Ironman Frankfurt zu erreichen. Sie fragt sich: „Was passiert hinter der Ziellinie mit mir, mit meiner Psyche?“ Andrea hat bislang acht Langdistanzen absolviert, alle in der Mainmetropole, bei allen hat ihr Mann, der ebenfalls gestartet ist, im Ziel auf sie gewartet. Dieses Mal wartet er nicht. Er kann nicht warten.

 

Andrea bei ihrem letzten Ironman.

Für Andrea bricht eine Welt zusammen

Rückblende: An einem Tag im Februar 2013 erhält Andrea einen Anruf von der Arbeitsstelle ihres Mannes. Ihr Mann ist gestorben, heißt es. Einfach so. Am Vorabend waren sie noch gemeinsam laufen. Für diesen Abend sind sie eigentlich zum Schwimmen verabredet.

Für Andrea bricht mit dem Tod ihres Mannes nach 34 Jahren Ehe – verständlicherweise – eine Welt zusammen. Von einer auf die andere Sekunde ist nichts mehr, wie es einmal war. Ihr Leben verliert seinen Sinn, zumindest für eine Zeit. „Ich habe ein Jahr ums Überleben gekämpft. Nur ums Überleben. Jeden Tag“, sagt Andrea und fügt an: „Wenn meine Kinder und Enkel nicht wären, hätte ich nicht mehr da sein wollen. Aber das wollte ich ihnen nicht antun, nachdem sie schon ihren Vater beziehungsweise Opa verloren haben.“

Die Hessin hört auf mit dem Sport. Beziehungsweise: Sie muss aufhören, weil sie psychisch nicht dazu in der Lage ist. „Es ging einfach nicht“, sagt Andrea.

Sport, Triathlon, ist über mehr als ein Jahrzehnt das, was ihren Mann und sie verbindet. Sie absolvieren jede Trainingseinheit zusammen, machen jeden Wettkampf gemeinsam, stützen sich gegenseitig. „Sport hat uns als Paar wieder zusammengebracht“, sagt Andrea. Sport ist ihr gemeinsames Ding, nachdem die Kinder aus dem Haus sind. Andrea beginnt mit dem Laufen. Ihr Mann zieht nach. Er macht 2004 seine erste Langdistanz, sie 2005. Von 2005 bis 2012 an starten sie jedes Jahr beim Ironman Frankfurt – gemeinsam. Auch für 2013 sind sie angemeldet. Der plötzliche Tod verhindert den Start.

Wendepunkt im Krankenhaus

Alleine fehlt Andrea danach die Energie, sich sportlich zu betätigen. Und sie hat Angst. Angst, das, was über Jahre ihres war, alleine weiter zu machen. „Mit dem alleine sein musste ich erst einmal klar kommen“, sagt sie. Ihre Tochter ist ihr in dieser Zeit eine große Stütze, hilft ihr, animiert sie zum Sporttreiben. Auch ein Arzt spricht ihr gut zu, als sie eines Nachts wegen Herzproblemen mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus kommt. Sie müsse etwas tun für ihr Sportlerherz, könne nicht einfach nichts mehr machen.

Also fängt Andrea langsam wieder an mit Laufen. Am Anfang ist es eher ein lustloses Schlurfen durch den Wald. Aber von Wochen zu Wochen, von Monat zu Monat, wird es besser. Andrea tritt einem Verein bei, startet irgendwann auch wieder bei kleinen Wettkämpfen: „Sport war meine Rettung. Ich brauchte den Sport als Therapie. Sport ist mein Anker. Geht es mir schlecht, gehe ich laufen.“ Sie lernt, ohne ihren Mann Sport zu machen, weil sie verinnerlicht, „dass er immer bei mir ist: Ich gehe alleine laufen, aber bin doch nicht alleine.“

Mit der Zeit kommt sie zu dem Entschluss, dass sie noch einmal in Frankfurt an der Startlinie stehen möchte. „Ich hatte das Gefühl, ich muss die zehnte Langdistanz für meinen Mann finishen, um ein Kapitel anzuschließen. Ich wusste, wie wichtig das für ihn war“, sagt Andrea. 2017 fühlt sie sich mental noch nicht dazu bereit. 2018 verhindert ein Radsturz den Start. Im Sommer 2018 spürt sie im Urlaub, dass sie nun so weit ist. Sie geht in eine Kapelle, in der sie öfter zusammen mit ihrem Mann war. Kerzen leuchten, die Atmosphäre ist stimmig. Andrea holt Handy und Kreditkarte hervor und meldet sich für den Ironman Frankfurt 2019 an.

Ihre Tochter schiebt Andrea (symbolisch) ins Ziel.

Das Ironman-Finish als Abschluss eines Kapitels

Es ist natürlich kein einfaches Rennen für Andrea, was nicht nur an den fast 40 Grad Celcius Außentemperatur in Frankfurt liegt. Vor allem mental ist es hart: Sie denkt fast den gesamten Wettkampf an ihren verstorbenen Mann. Als sie das Ziel erreicht, verfliegen ihre Ängste. Sie merkt: Sie ist zwar alleine ins Ziel gelaufen. Aber er ist da. So wie immer, wenn sie Sport macht.

Andrea schließt dieses Kapitel für ihren Mann ab. Und sie schließt auch ein Kapitel für sich ab. Es ist für sie wie ein Startpunkt in einen neuen Lebensabschnitt. Ihr Mann wird in ihrem Leben immer eine ganz, ganz wichtige Rolle spielen – auch wenn er seit fast sieben Jahre Tod ist. Aber mit dem Abschluss, wie Andrea es nennt, also dem gefinishten Ironman Frankfurt, fühlt sie sich nun wie befreit von einer Last: „Natürlich ist das Leben nicht mehr so leicht wie früher. Aber ich kann es jetzt leben.“

 

Quelle: DTU /  Thorsten Eisenhofer